Am 14. Dezember 2023 erzielten das Europäische Parlament und die Mitgliedsstaaten der EU eine wegweisende Einigung über ein EU-weites Lieferkettengesetz, das als bedeutender Schritt im legislativen Prozess angesehen wurde. Experten, die vom Science Media Center (SMC) befragt wurden, sahen in dieser Übereinkunft mehrheitlich einen entscheidenden Fortschritt.

Das Gesetz zielt darauf ab, Unternehmen zur Einhaltung grundlegender Menschenrechts- und Umweltstandards in ihren Lieferketten zu verpflichten. Im Vergleich zum deutschen Pendant würde das EU-Gesetz Unternehmen ab einer kleineren Größenordnung betreffen, die gesamte Lieferkette abdecken, auch informell Beschäftigte einbeziehen und Unternehmen bei Verstößen zivilrechtlich zur Verantwortung ziehen.

Trotz der anfänglichen Einigung formierte sich Widerstand gegen das Gesetz, sowohl von Wirtschaftsverbänden als auch politischen Akteuren. Wirtschaftsverbände äußerten sich zuletzt verstärkt gegen das Gesetz, indem sie vor Kosten durch übermäßige Bürokratie und Rechtsunsicherheit warnten. Politisch manifestierte sich Opposition, insbesondere vonseiten der FDP, die in einem Präsidiumsbeschluss vom 15. Januar eine Reihe von Einwänden gegen die vereinbarte Fassung des Gesetzes vorbrachte und Änderungen forderte. Sollte sich Deutschland der Zustimmung enthalten, könnte dies das Scheitern der Richtlinie in den letzten Phasen des europäischen Gesetzgebungsprozesses zur Folge haben. Vor diesem Hintergrund bat das SMC die Forschenden, die bereits im Dezember die Einigung bewertet hatten, um eine erneute Stellungnahme zu den Argumenten der aktuellen Diskussion.

► Prof. Dr. Sarah Jastram

Professorin für Internationale Wirtschaftsethik und Nachhaltigkeit sowie Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, HSBA Hamburg School of Business Administration

Zu den Argumenten gegen das Gesetz

„Es ist nicht überraschend, dass die deutsche Wirtschaft und die FDP versuchen, sich gegen dieses Gesetz zu stellen. Aber es ist kurzsichtig, da der Schutz von Menschenrechten und nachhaltige Innovation in internationalen Wertschöpfungsketten wichtige Qualitätsstandards darstellen, die für führende Unternehmen längst zur zentralen Unternehmenspositionierung gehören. Manager/innen, die dies noch nicht erkannt haben, vertreten einen Kapitalismus, der sich im Aussterben befindet und gefährden damit die Zukunftsfähigkeit ihres Unternehmens.“

Auf die Frage, ob sich Unternehmen wegen des Lieferkettengesetzes womöglich aus problematischen Ländern zurückziehen würden und sich die Situation der Menschen vor Ort dann nicht verbessere:
„Ich denke, dass die Unternehmen vor einem Rückzug aus einem Land zunächst erstmal den Druck auf die Zulieferer erhöhen würden, damit es nicht zu Haftungsfällen kommt. Und darin besteht ja auch die Hoffnung, dass hierdurch Wandel in den Zuliefererunternehmen ausgelöst wird. Zulieferer, die in einer bestimmten Qualität, Menge und Zuverlässigkeit liefern können, sind nicht einfach zu finden. Insofern haben die Unternehmen ein großes Interesse, die Beziehungen zu den Lieferanten zu halten, sofern dies möglich ist.“

Bedeutung der Gesetzesablehnung

„Eine Verhinderung des Europäischen Lieferkettengesetzes wäre eine politische Blamage. Dennoch ist ein potenzieller Bürokratie-Burnout keine falsche Diagnose. Insbesondere, wenn man den Gesamtumfang der aktuellen Europäischen Regulierung im Bereich Nachhaltigkeit betrachtet. Der Bürokratie-Burnout besteht nicht nur durch das EU-Lieferkettengesetz, sondern auch schon durch die Taxonomie, die NFRD (Non-Financial Reporting Directive), CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive), ESRS (European Sustainability Reporting Standards), LKSG (deutsches Lieferkettenschutzgesetz) und weitere Regulierungen. Hierbei geht es häufig um sehr ähnliche Themengebiete und es betrifft dieselben Menschen und Abteilungen im Unternehmen. Es besteht somit ein hoher Bürokratieaufwand dadurch, dass die Unternehmen seit einigen Jahren eine Vielzahl neuer Compliance-Auflagen im Bereich Corporate Social Responsibility und Nachhaltigkeit erfüllen müssen, in einem Feld, das lange als freiwillig und flexibel galt. Vor diesem Hintergrund kommt es nun durch noch eine weitere Direktive in kurzer Zeit zum Burnout-Gefühl. Daher muss das Gesamtregulierungspaket Green Deal dringend besser integriert, harmonisiert und in der Anwendung vereinfacht werden.“

► Prof. Dr. Julia Hartmann

Professorin für Management und Nachhaltigkeit, EBS Universität für Wirtschaft und Recht

Vorteile des Gesetzes

„Die Vorteile einer EU-weiten Regelung sind folgende: Zum einen gelten in verschiedenen Ländern der europäischen Union bereits Versionen von Lieferkettengesetzen oder sind in der Diskussion: Deutschland, Frankreich, sowie Belgien, Dänemark und Österreich. Hier besteht die Chance einer Harmonisierung von Regelungen, was die Umsetzung für die Wirtschaft deutlich vereinfachen würde.“

„Ohne ein Gesetz wären insbesondere diejenigen Unternehmen, die sich für nachhaltige Lieferketten engagieren, weiterhin im Nachteil. Sie gehen Kosten ein, welche ihre Wettbewerber nicht haben und die sie nicht an ihre Kunden weitergeben können.“

„Eine Erleichterung wäre das Gesetz auch für Lieferanten. Heute müssen diese oft zahlreiche unterschiedliche Fragebögen ausfüllen und Angaben machen. Oft überschreiten die Anforderungen der Kunden ihre Kapazitäten. Einheitliche Anforderungen zumindest von Seiten ihrer europäischen Kunden würde ihre Arbeit erleichtern.“

„Letztendlich können Lieferanten die Anforderungen ihrer Kunden leichter erfüllen, wenn diese alle in dieselbe Richtung gehen. In der Forschung zu nachhaltigen Lieferketten gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Lieferanten Anforderungen eher erfüllen, wenn die Nachfrage stärker ist [1] [2], was bei einer EU-einheitlichen Regelung der Fall wäre.“

„Die Debatte scheint den Chancen von nachhaltigen Lieferketten unzureichend Rechnung zu tragen. Die Wissenschaft konnte klar zahlreiche positive Effekte feststellen: Reputation, Resilienz und Effektivitätsgewinne. In der Pandemie waren Unternehmen mit nachhaltigen Lieferketten deutlich krisenresilienter [3]. Sie haben außerdem deutlich geringere Emissionen. In Zeiten, in denen Emissionen zunehmend bepreist werden, kann dies einen Kostenvorteil bringen [4]. Letztendlich können sie ihre Reputation besser schützen [5] [6].“

„Ein EU-Gesetz kann zum Anlass genommen werden, Kompetenzen und Know-how aufzubauen, welche in wenigen Jahren für erfolgreiches Lieferkettenmanagement unabdingbar sein werden.“

Zu den Argumenten gegen das Gesetz

„Hinzu kommt, dass globale Transparenz über Lieferketten durch die sich schnell entwickelnden Fähigkeiten künstlicher Intelligenz zunehmend ein Selbstläufer wird – ohne großes Dazutun von Seiten der Unternehmen [7] [8] [9]. Artificial Intelligence ist schon heute in der Lage, weltweit und in Echtzeit Menschenrechtsverstöße aufzuspüren, aber Unternehmen nutzen diese Instrumente kaum. Das wird zunehmend riskant und kann der Reputation von Unternehmen massiv schaden.“

► Dr. Christian Scheper

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen

Zu den Argumenten gegen das Gesetz

„Die Kritik von BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) und FDP an dem EU-Gesetz beinhaltet drei Hauptvorwürfe: zu viel Bürokratie, kein Mehrwert für den Schutz der Menschenrechte und zu hohe Belastung der Unternehmen, insbesondere der KMU. Diese Argumente sind wissenschaftlich nicht fundiert und beruhen zum Teil auf falschen Annahmen über das geplante Gesetz.“

„Erstens, zur Bürokratie: Die Befürchtung einer überbordenden Bürokratie ist nicht belegt. Für Unternehmen, die ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten bereits erfüllen, entsteht kein nennenswerter Mehraufwand. Ein einheitliches EU-Gesetz könnte langfristig sogar zusätzliche Bürokratie vermeiden, da die Alternative ein Nebeneinander unterschiedlicher nationaler Lieferkettengesetze wäre.“

„Zweitens, zum menschenrechtlichen Mehrwert: Das Argument, das Gesetz würde seinen Zweck verfehlen oder gar schaden, ist empirisch nicht haltbar. Da es bisher keine starken Lieferkettengesetze vergleichbar mit der geplanten EU-Regulierung gibt oder die Gesetze noch zu neu sind – wie in Deutschland –, lassen sich zwar über deren Wirkungen noch keine empirisch fundierten Aussagen machen. Jedoch zeigt die Forschung, dass ohne Lieferkettengesetze Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung durch private Unternehmens- und Marktlösungen nicht wirksam verhindert werden und es bei Missständen an effektiven Rechtswegen fehlt [10] [11]. Deshalb fordern Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, aber auch zahlreiche Unternehmen, seit langem eine stärkere gesetzliche Regulierung von Lieferketten.“

„Drittens, zur übermäßigen Belastung von KMU (Kleinstunternehmen, kleine und mittlere Unternehmen): Die pauschale Annahme, kleine und mittlere Unternehmen würden unverhältnismäßig belastet, ist falsch. Gerade das rechtliche Konzept der Sorgfaltspflicht ermöglicht eine flexible Anpassung an die Bedürfnisse und Kapazitäten des jeweiligen Unternehmens. Viele KMU lassen bereits heute ein hohes Maß an Sorgfalt walten. Zudem sind kleine und mittlere Unternehmen nur mittelbar von dem Gesetz betroffen. Ein bloßes ‚Abwälzen‘ der Sorgfaltspflichten von Großunternehmen auf kleinere Lieferanten kann durch entsprechende behördliche Regelungen vermieden werden.“

Bedeutung der Gesetzesablehnung

„Der vorliegende Gesetzesentwurf ist bereits ein über einen langen Zeitraum und in intensiven Debatten austarierter Kompromiss – viele Punkte werden seit Jahren diskutiert. Eine weitere Aufweichung zugunsten ausgewählter Unternehmensinteressen oder gar eine Ablehnung des Gesetzes würde voraussichtlich deutlich zu Lasten des Umwelt- und Menschenrechtsschutzes gehen und dem normativen Bekenntnis der EU zu mehr Nachhaltigkeit und Menschenrechtsschutz widersprechen.“

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Cheng L et al. (2021): Leaving it on the table? An examination of unrealized bargaining power in multimarket buyer–supplier exchanges. Journal of Operations Management. DOI: 10.1002/joom.1121.

[2] Jiang S et al. (2023): The effect of customer and supplier concentrations on firm resilience during the COVID‐19 pandemic: Resource dependence and power balancing. Journal of Operations Management. DOI: 10.1002/joom.1236.

[3] Eggert J et al. (2023): Sustainable supply chain management – a key to resilience in the global pandemic. Supply Chain Management: An International Journal. DOI: 10.1108/SCM-10-2021-0463.

[4] Eggert J et al. (2021): Purchasing’s contribution to supply chain emission reduction. Journal of Purchasing and Supply Management. DOI: 10.1016/j.pursup.2021.100685.

[5] Hartmann, J., et al. (2022): A consumer perspective on managing the consequences of chain liability. Journal of Supply Chain Management. DOI: 10.1111/jscm.12279.

[6] Hartmann J et al. (2014): Chain liability in multitier supply chains? Responsibility attributions for unsustainable supplier behavior. Journal of Operations Management. DOI: 10.1016/j.jom.2014.01.005.

[7] Boersma M et al. (2020): Can Blockchain Help Resolve Modern Slavery in Supply Chains? AIB Insights. DOI: 10.46697/001c.13542.

[8] Kougkoulos I et al. (2021): A Multi‐Method Approach to Prioritize Locations of Labor Exploitation for Ground‐Based Interventions. Production & Operations Management. DOI: 10.1111/poms.13496.

[9] Saberi S et al. (2019): Blockchain technology and its relationships to sustainable supply chain management. International Journal of Production Research. DOI: 10.1080/00207543.2018.1533261.

[10] Schilling-Vacaflor A et al. (2021): Hardening foreign corporate accountability through mandatory due diligence in the European Union? New trends and persisting challenges. Regulation & Governance. DOI: 10.1111/rego.12402.

[11] LeBaron G et al. (2021): The hidden costs of global supply chain solutions. Review of International Political Economy. DOI: 10.1080/09692290.2021.1956993