Eine kürzlich in „Science“ veröffentlichte Studie, die sich auf Daten des Atlantischen Regenwalds stützt, offenbart, dass das Ausmaß der Bedrohung für Baumarten weltweit womöglich unterschätzt wird. Die Forscher entdeckten, dass 82 Prozent der endemischen und 65 Prozent aller Baumarten in diesem Gebiet gefährdet sind – ein höherer Anteil als bisher angenommen.

Diese Erkenntnis führt zu einer alarmierenden globalen Einschätzung: Aufgrund von Habitatverlust in tropischen Wäldern könnten 35 bis 43 Prozent aller Baumarten bedroht sein, im Gegensatz zu den bisher geschätzten 30 Prozent. Forschende halten Schluss auf globale Baumarten für plausibel, aber gewagt.

Der Atlantische Regenwald, der sich einst entlang der gesamten Ostküste Brasiliens und Teilen Argentiniens und Paraguays erstreckte, ist ein Hotspot der globalen Biodiversität. Er beherbergt über 15.000 Pflanzenarten, doch hat er im 20. Jahrhundert 80 Prozent seiner Fläche durch Abholzung verloren – ein größerer Verlust als beim Amazonas-Regenwald.

Die Wissenschaftler nutzten für ihre Untersuchung die Kriterien der Roten Listen der IUCN. Diese Kriterien umfassen neben der Verbreitung und Populationsrückgang auch sehr kleine Populationen. Frühere Studien beschränkten sich meist auf das Kriterium der Verbreitungsgebiete. Die Forscher analysierten Daten von über 5000 Arten, basierend auf historischen Pflanzensammlungen und Zählungen von 1,3 Millionen Bäumen.

Die Studie zeigt, dass bei Berücksichtigung aller IUCN-Kriterien deutlich mehr Baumarten als bedroht eingestuft werden müssen. Dies legt nahe, dass die Bedrohung von Baumarten auch in anderen Ökosystemen weltweit bisher unterschätzt wurde. Daraus folgt die dringende Notwendigkeit, tropische Wälder zu schützen und die Abholzung einzudämmen.

Das Science Media Center hat Expertisen von Fachleuten eingeholt:

► Prof. Dr. Almut Arneth

Leiterin der Arbeitsgruppe Modellierung Globaler Landökosysteme und Leiterin der Abteilung Ökosystem-Atmosphäre Interaktionen, Institut für Meteorologie und Klimaforschung Atmosphärische Umweltforschung (IMK-IFU), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Campus Alpin, Garmisch-Partenkirchen

Kernaussage der Studie

„In der Studie wurde mit Hilfe einer Vielzahl von Daten der Gefährdungsstatus der knapp 5000 Baumarten bewertet, die im Atlantischen Regenwald vorkommen – einer großen Ökoregion an der Ostküste Südamerikas und ,Hotspotregion’ der Biodiversität. Dass der Atlantische Regenwald stark gefährdet ist, ist wohlbekannt, schon allein aufgrund der immensen Abholzung, die diese Region erfahren hat. In der Studie wurden jedoch wesentlich mehr Arten miteinbezogen als in früheren Forschungsarbeiten, und es wurden unterschiedliche Kriterien herangezogen, mit denen Gefährdung und Aussterberisiko abgeschätzt werden kann.“

„Eine gute Nachricht ist, dass von fünf Baumarten, die bereits als ausgestorben galten, jüngeres Herbarium-Material (Sammlung konservierter Pflanzen) ‚wiederentdeckt‘ wurde. Inwieweit diese Arten tatsächlich noch in nennenswerten Populationen existieren, ist jedoch unklar. Schwerer wiegt, dass sich der Erhaltungsstatus des Atlantischen Regenwaldes –gemessen am Rote Liste Index – über weite Teile mit Index-Werten um die 0,3 bis 0,4 im tatsächlich ‚roten Bereich‘ bewegt (Der Index beschreibt den Bedrohungszustand mehrerer Arten einer Liste mit Werten zwischen 0 und 1 – wobei 0 ‚alle Arten ausgestorben‘ und 1 ‚keine Art bedroht‘ bedeutet;).“

Methodik

„Hinter der Studie steckt ein massiver Aufwand: Es wurden verschiedenste Daten zur Taxonomie, Verbreitung und Ökologie der Baumarten des Atlantischen Regenwalds zusammengetragen. Die Quellen, Vorgehensweise und unterschiedlichen Annahmen, die für manche Aspekte der Analyse notwendig waren, sind im Supplement zu der Veröffentlichung klar beschrieben. Gleiches gilt auch für die Unsicherheiten, die sich aus mancher dieser Annahmen ergeben.“

„Diese Daten dann mit unterschiedlichen mathematischen Funktionen auszuwerten und auf die Fläche zu extrapolieren, scheint mir völlig vertretbar. Man muss hier auch berücksichtigen: Das ursprüngliche Ausdehnungsgebiet des Atlantischen Regenwaldes umfasste mehr als 1,2 Millionen Quadratkilometer und ist – wie in der Studie beschrieben – eine extrem artenreiche Region der Erde. Solch eine Region hinsichtlich des Gefährdungsstatus der Arten zu bewerten ist extrem aufwändig.“

Verwendung der Rote-Liste Kriterien der IUCN

„Eine umfassende Analyse des Erhaltungsstatus einer Art ist aufwändig und unterschiedliche Kriterien führen auch teils zu unterschiedlichen Ergebnissen, zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher Ökologie der Arten, aber auch aufgrund lokaler Verbreitungsbesonderheiten. Dort wo es möglich ist, mehrere Kriterien heranzuziehen, ergibt sich ein vollständigeres Bild. Dies ist beispielsweise von Vorteil, wenn der Erhaltungsstatus über einen Zeitraum hinweg untersucht wird und bei Heranziehung unterschiedlicher Kriterien früher eine Warnstufe erkannt wird. Die Autor*innen stellen jedoch auch klar, dass das Datenmaterial für diese Multi-Kriterien-Analyse zum Teil sehr dünn ist. Einige der Unsicherheiten, die durch wichtige Annahmen in diesen Fällen bedingt sind, wurden auch untersucht. Demnach kommen die Autor*innen zu dem Schluss, dass ihre Aussagen zum Gefährdungsstatus wohl eher konservativ sind.”

Ausweitung der Erkenntnisse auf den globalen Baumbestand

„Ich finde die Extrapolation zu anderen tropischen Waldregionen durchaus interessant, aber auch mutig. Sie basiert auf einer offenbar recht einfachen Extrapolation basierend auf Informationen zum Zusammenhang von Habitatverlust durch Entwaldung und Abnahme der Populationsgröße endemischer Arten. Die Karte in Abbildung 4 zeigt bereits ganz direkt die Grenzen einer solchen Extrapolation – einfach dadurch, dass diese innerhalb sehr großer Regionen keine Nuancierung hinsichtlich des Rote-Liste-Index erlaubt. Von daher würde ich persönlich in diese Karten nicht allzu viel hineininterpretieren, sondern eher als Anreiz betrachten, für weitere, detaillierte regionale Abschätzungen.“

► Prof. Dr. Pierre Ibisch

Professor für Naturschutz, Centre for Econics and Ecosystem Management, Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde

Kernaussage der Studie

„Leider bestätigt diese Studie nicht nur die schlimmsten Befürchtungen, die Tropenökologen seit langem hegen, sondern macht plausibel, dass die Lage vor allem von Waldarten noch schlechter ist als angenommen. Der Atlantische Küstenregenwald in Brasilien gehört zu den artenreichsten und biologisch einzigartigsten Regionen der Erde, aber er ist durch die Landnutzung in viele kleine Relikte zersplittert worden. Mir ist das Gebiet persönlich bekannt. Die Ausbreitung von Städten, Viehfarmen, Landwirtschaft und Eukalpytus-Plantagen führt zum Untergang dieser großartigen Waldregion. Hinzu kommt nun auch noch der Klimawandel.“

Methodik

„Die Methodik der Autor:innen bedeutet einen echten Fortschritt, da sie große Datenmengen benutzen und sie automatisiert verarbeiten. Es ist ein großer Vorteil, Einschätzungen nicht nur über den Rückgang des Lebensraums vorzunehmen, sondern auch Informationen über die Nachweise der Arten und damit auch die Populationsgrößen zu berücksichtigen.“

Ausweitung der Erkenntnisse auf den globalen Baumbestand

„Die Situation im Atlantischen Küstenregenwald ist schon seit Jahrzehnten sehr kritisch, aber viele andere Regenwaldgebiete sind längst auf dem gleichen Entwicklungspfad. Insofern halte ich auch die verallgemeinernden Schlussfolgerungen für die Tropen weltweit für stichhaltig.“

Nutzung der Ergebnisse für den Ökosystemschutz weltweit

„Die Ergebnisse sind geeignet, uns einmal mehr aufzurütteln. Aber Schutzbemühungen werden leider weitgehend ins Leere laufen, wenn wir nicht ernsthaft über die Gründe für die Waldvernichtung sprechen. Im Atlantischen Küstenregenwald sind wir als Europäer:innen schon in dem Moment an der Waldvernichtung beteiligt, wenn wir Gartenmöbel aus vermeintlich ‚nachhaltig zertifiziertem‘ Eukalyptus-Holz kaufen. Hier und dort ein paar weitere Schutzgebiete werden nicht ausreichen, diesen erdrutschartigen Verlust des Lebens und der funktionierenden Ökosysteme in dieser Region zu stoppen. Dafür müsste dem Wald schlicht sehr viel Fläche zurückgegeben werden. Es braucht größere Gebiete, wo Wald Wald sein darf. Das gilt nebenbei auch für unsere Wälder in Deutschland. Wir haben bei uns nur nicht so viele seltene Baumarten, wie sie in den Tropen vorkommen.“

Primärquelle

de Lima RAF et al. (2024): Comprehensive conservation assessments reveal high extinction risks across Atlantic Forest trees. Science. DOI: 10.1126/science.abq5099. (Es kann nach Veröffentlichung der Studie einige Minuten dauern, bis der Link tatsächlich aktiv ist.)

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Botanic Gardens Conservation International (2021): State of the Word’s Trees.

[II] International Union for Conservation and Nature (2012): IUCN Red List Categories and Criteria: Version 3.1.
Informationen zu den Kriterien des Gefährdungsstatus finden Sie auf Seite 16ff.