Ein Essay von Christoph Quarch
Das Eis schmilzt. Es schmilzt nicht erst seit heute, und es schmilzt nicht nur in Grönland. Es schmilzt überall. Die Alpengletscher ziehen sich zurück, die Eismassen des Patagonischen Inlandeises schwinden, das arktische Packeis verflüssigt sich. Was noch vor wenigen Jahren undenkbar schien, ist inzwischen Tatsache: eine eisfreie Wasserstraße erlaubt die Nordostpassage zwischen Grönland und den nördlichen Landmassen Sibiriens. Rund um die Arktis tauen Permafrostböden auf. Nichts bleibt so wie es war. Und die Klimaforscher sagen: Die Erwärmung vollzieht sich schneller als erwartet. Der Klimawandel ist unaufhaltsam.
Die Völker des Nordens wissen das schon längst. Sie waren die ersten, die bemerkten, dass sich in den Polarregionen Unerhörtes zuträgt. Einer von ihnen ist Angaangaq Agakkorsuaq, Ältester und Schamane der Kalaallit Nunaat im Nordwesten Grönlands. Er erinnert sich: „Im Jahre 1963 kamen zwei Jäger meines Volkes in unser Dorf und berichteten von einem sonderbaren Phänomen: Ein Rinnsal tröpfelte von der mächtigen Eiskappe des Inlandeises herunter. Heute ist dieses Rinnsal ein Fluss – und der Ozean droht, uns alle zu verschlingen.“
Die Eskimos waren beunruhigt, gibt es bei ihnen doch eine alte Prophezeiung, die verheißt: „Wenn eines Tages das steinharte Große Eis so weich wird, dass du ihm einen Abdruck deiner Hand einprägen kannst, dann wird das ein Zeichen dafür sein, dass Mutter Erde in großem Aufruhr ist.“
Weder die Eltern noch die Großeltern Angaangaqs hätten je zu denken gewagt, dass sich diese Prophezeiung zu ihren Lebzeiten erfüllen würde; und dass sie selbst zu Zeugen dieser Erfüllung werden könnten. Die Kalaallit blieben nicht tatenlos. Sie bestimmten Angaangaq zu ihrem Boten und schickten ihn in die Welt, um von den bedrohlichen Dingen zu berichten, die sich in ihrem Land unbemerkt vollzogen. Und Angaangaq ging in die Welt, doch fand er kein Gehör.
In seinem Buch „Schmelzt das Eis in euren Herzen“ (2010) erzählt er, was ihm widerfuhr:Eines Tages im Jahr 1978 hatte ich wieder einmal eine Reise mit Vorträgen, Diskussionen und Sitzungen hinter mir. Ich hatte vor den Menschen der westlichen Welt davon gesprochen, dass das Große Eis in Grönland schmilzt.
Ich hatte vor den Vereinten Nationen gesprochen, und die Menschen hatten mir Applaus gespendet. Ich war stolz. Und voller Eifer kehrte ich heim und erzählte den Ältesten, was für eine bedeutende Rede ich gehalten hatte. Die Ältesten erwiderten: „Haben sie dich gehört, mein Sohn?“ Da begriff ich, dass ich vor lauter Stolz gar nicht darüber nachgedacht hatte, ob die Menschen, die dort saßen, meine Worte wirklich gehört hatten.
Und jemehr ich redete und reiste, desto bedrückter wurde ich. Ich sprach und sprach, doch ich spürte immer stärker, dass ich die Menschen nicht erreichte. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich meine Mutter aufsuchte und ihr sagte, ich hätte den Eindruck, nichts würde sich ändern. Jedesmal,wenn ich sprach, applaudierten die Menschen. Sie stimmten mir zu und nickten freundlich. Aber nichts geschah. Also fragte ich meine Mutter, wasich tun solle. Wir waren in ihrem Wohnzimmer. Sie saß auf einem Stuhl, der unserem Vater gehört hatte. Er war zu ihrem Lieblingsstuhl geworden. Sie stand auf. Ich tat es ihr nach. Sie nahm meine beiden Hände und schaute zu mir auf, denn ich war um einiges größer als sie. Dann lächelte sie ihr bezauberndes Lächeln. Sie schloss ihre Augen, und ich tat es ihr nach.
Da sagte sie: „Sohn, du weißt, dass du andere Wege beschreiten wirst.“ Ich erinnere mich, dass ich lebhaft „Ja“ sagte. Wir blieben so stehen. Wir hielten unsere Hände und schauten uns mit geschlossenen Augen an. Und sie sagte zu mir: „Mein Sohn, du weißt, dass du andere Wege beschreiten wirst. Du wirst ausziehen, um das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen. Nur indem wir das Eis in den Herzen des Menschen schmelzen, hat der Mensch die Chance, sich zu ändern und sein Wissen weise anzuwenden.“ Dann schwieg sie.
Ich glaubte, sie sei fertig. Ich öffnete meine Augen und schaute sie an. Da öffnete auch sie ihre Augen. Sie lächelte ihr bezauberndes Lächeln. Ich sagte: „Ja. Aber wie mache ich das?“ Erneut schloss sie ihre Augen. Das bezaubernde Lächeln spielte weiter auf ihren Lippen. Auch ich schloss meine Augen.
Da sagte sie noch einmal: „Sohn, du musst lernen, das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen! Nur indem wir das Eis in den Herzen des Menschen schmelzen, hat der Mensch die Chance, sich zu ändern und sein Wissen weise anzuwenden.“ Dabei drückte sie sanft meine Hände. Und als ich meine Augen erneut öffnete, da schaute ich meine Mutter an und sah ihr ganz besonders zauberhaftes Lächeln. Und bevor ich nur ein Wort sagen konnte, drehte sie sich um und ging in ihre geliebte Küche.“
Damit ist eigentlich alles gesagt. Der Klimawandel hat begonnen, und seine Folgen sind unausweichlich. Das Eis der Gletscher schmilzt und wird weiter
schmelzen, Grönland wird grün werden, einige Inseln im Pazifik werden in den Fluten des Meeres untergehen, Küstenregionen werden überflutet, Extremwetterlagen werden häufiger, Klimaflüchtlinge werden in die gemäßigteren Regionen drängen – die Welt wird sich ändern; aber die Menschen… – werden auch sie sich ändern? Werden ihre vereisten Herzen auftauen? Wird das Eis in ihren Herzen brechen? Werden sie den unausweichlichen Herausforderungen der Erderwärmung begegnen können? Werden sie ihr ungeheuerliches Wissen weise anzuwenden lernen?
Wenig spricht derzeit dafür. Der Geist der Zeit scheint nicht dazu angetan, Menschen in ein beherztes Handeln zu führen. Im Gegenteil: Der Zeitgeist ist
ein Geist des Frostes. Nicht empathische Wärme zeichnet ihn aus, sondern ignorante Coolness. „Was gehen mich Grönlands Gletscher an?“ raunt es im
Hirn der Herzenskalten. „Wie lässt sich ökonomischer Profit daraus schlagen?“ tönt es in den Besprechungszimmern des Business. „Wie verändert sich die geopolitische Lage?“ fragen sich die Militärs.
Dass die große Schmelze dem Menschen anderes zu sagen hat, kommt den wenigsten in den Sinn.
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