Die Transformation unseres Energiesystems hin zu 100 Prozent erneuerbare Energie ist drängender denn je. Am Beispiel des Quartiers Rüsdorfer Kamp in Heide entwickeln Forschende aus der U Bremen Research Alliance im Rahmen des Projekts „Quarree100“ Lösungen, die nachhaltig, resilient und übertragbar sind. Von dem Wissen sollen nicht nur möglichst viele profitieren, sondern es auch erweitern können – per Open Science.

Der Wind weht meist aus Westen, von der Nordsee kommend, und oft in beachtlicher Stärke über das flache Dithmarscher Land. Die Einheimischen sprechen von „steifer Brise“, die man auch daran erkennt, dass viele Windräder stillstehen – ein Paradoxon, das nicht nur die Touristen aus dem Süden irritiert. Der Grund: An windreichen Tagen überlastet der von den Windrädern erzeugte Strom das Netz, nur durch Abschaltungen bleibt es stabil. 3750 Gigawattstunden gingen 2019 so verloren, fast 400 Millionen Euro an Entschädigungen waren vom Staat an die Betreiber:innen zu zahlen.

Das soll sich ändern. Energie nicht länger zu vergeuden, sondern überschüssige Windenergie zu speichern und das Gesamtsystem zu entlasten, ist ein Ziel von Quarree100. Das übergeordnete Anliegen formuliert der Koordinator des Projekts, Dr. Torben Stührmann, so: „Wir wollen den Bestand möglichst schnell CO₂-neutral bekommen.“ Stührmann ist kommissarischer Teamleiter des Fachgebietes Resiliente Energiesysteme an der Universität Bremen, einer Mitgliedseinrichtung der U Bremen Research Alliance.

– – „Wir wollen den Bestand möglichst schnell CO₂-neutral bekommen.“ – –

Der Bestand, das sind zu zwei Dritteln Einfamilienhäuser, außerdem Gewerbe und Mehrfamilienhäuser, verteilt auf einem 20 Hektar großem Gelände. Einige der Häuser sind hundert Jahre alt und älter, viele stammen aus der Nachkriegszeit. Die Wärme für die gut 600 Bewohner:innen produzieren vorwiegend Öl- und Gasheizungen, mit 56 Prozent trägt die Wärmeversorgung am stärksten zum CO₂-Ausstoß bei. „Das Quartier steht für viele in Deutschland“, betont Stührmann. „Der Rüsdorfer Kamp hat Leuchtturmcharakter, die hier entwickelten Modelle lassen sich auf andere Regionen übertragen.“

Sieben Arbeitspakete haben die Forschenden definiert, zu denen auch Wissenschaftler:innen des Fraunhofer-Instituts für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM gehören, ebenfalls eine Mitgliedseinrichtung der U Bremen Research Alliance. Die Datenerhebung und Energiekonzepterstellung gehören dazu, die Bürgerbeteiligung, Infrastrukturen und Systeme, die Entwicklung neuer Technologien und auch die Untersuchung der regionalökonomischen Effekte der Maßnahmen. Ins-gesamt 20 Partner:innen sind an dem Vorhaben beteiligt, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 24 Millionen Euro gefördert wird.

Ein Teil des Geldes wird in die Errichtung eines stadtteileigenen Wärmenetzes fließen, dem sich möglichst viele Bewohner:innen möglichst schnell anschließen sollen. Es ist ein wichtiger Baustein im Instrumentenkasten der Forschenden. Ein anderer ist die Errichtung einer Energiezentrale. „Sie wird das Quartier über eine Wärmepumpe mit Heizenergie versorgen“, sagt Benedikt Meyer, Ingenieur für Umwelttechnik an der Universität Bremen und Leiter eines der Arbeitsbereiche des Projekts. Zudem wird sie aus einem Blockheizkraftwerk und einem Gaskessel zur Absicherung bestehen.

Die Wärmepumpe wird vor allem durch den Windstrom gespeist. Photovoltaikanlagen auf gut der Hälfte der Hausdächer sollen weiteren Strom produzieren, für den Hausgebrauch und zur Einspeisung ins Netz. Überschüssige Energie wird in Batterien zwischengespeichert oder zur Erzeugung von Wasserstoff genutzt werden. „Das System muss flexibel sein“, sagt Meyer. „Je flexibler es ist, desto besser.“

Der Ansatz nimmt dabei das gesamte Quartier in den Blick. Nicht jedes Haus wird für sich betrachtet, es geht um das große Ganze. In dessen Gestaltung sind die Bewohner:innen und die Betriebe einbezogen. „Der Umbau des Energiesystems klappt nur, wenn sie die Planung mitbestimmen können und hinter den Lösungen stehen“, sagt Stührmann. Auf Workshops und Nachbarschaftstreffen tauscht man sich aus; zum Einsatz kommt auch ein digitaler, interaktiver Planungstisch. Er ermöglicht das Abrufen verschiedenster Daten und funktioniert nach dem Prinzip „Was passiert, wenn …“. „Es geht darum, gemeinsam Szenarien zu entwickeln und die Veränderungen anschaulich und nachvollziehbar zu machen“, erläutert Stührmann. Die Teilnehmenden können an dem Tisch auch ihr Haus auswählen und feststellen, wie sich ihre Energiekosten entwickeln, wenn sie nicht mitmachen, und welche Folgen das für das Viertel hat.

– – „Wir arbeiten in der U Bremen Research Alliance seit Langem eng und vertrauensvoll zusammen, was für das Projekt sehr nützlich ist.“ – –

Von Skepsis bis hin zu aktiver Beteiligung reicht die Bandbreite der Reaktionen, die Kosten sind ein stets wiederkehrendes Thema. „Die Umstellung ist anfänglich mit höheren Kosten verbunden“, räumt Stührmann ein. „Dafür erhält man eine höhere Versorgungssicherheit, die CO₂-Neutralität sowie eine Aufwertung der eigenen Immobilie und des Quartiers.“ Und langfristig auch günstigere Preise.

Für die Wissenschaftler:innen ist dieses Pionierprojekt nicht nur spannend, weil sie einen Beitrag zur Energiewende leisten. Sondern vor allem, weil sie auf der Grundlage einer Vielzahl von Daten einen Modell-baukasten für die Transformation des Energiesystems entwickelt haben, wie es ihn in dieser Form noch nicht gegeben hat. „In der Vergangenheit haben viele Forschungsinstitute eigene Modelle entwickelt und sie für sich behalten“, sagt Meyer. „Wir hingegen setzen auf Open Science. Unsere Modelle sind frei verfügbar, andere können sie nutzen und nach ihren Bedürfnissen weiterentwickeln. Je mehr daran arbeiten und ihre Ideen einbringen, desto besser!“

So beschäftigt sich zum Beispiel ein Modell mit der Frage, wie man eine Energiezentrale möglichst CO₂-neutral und kostenoptimal gestalten kann. Parameter wie der Wärmebedarf der Gebäude, die zur Verfügung stehenden Energiequellen und die Kosten für eine Wärmepumpe oder eine Erdgastherme fließen darin ein. „Am Ende erstellt das Modell für das gewünschte Ziel ein optimales System, das zum Beispiel die dafür nötige Leistungsstärke eines Blockheizkraftwerkes und einer Wärmepumpe errechnet“, erklärt Meyer.

Ein weiteres – deutschlandweites Modell beschreibt die Eingangsdaten für die Energiezentrale. Was kostet der Strom? Wie ist die CO₂-Belastung über den Tag verteilt? Wann ist der Strom „grün“, wann „schwarz“? Gemeinsam mit dem Fraunhofer IFAM wurde zudem ein Modell für die Gestaltung von Wärmenetzen entwickelt. „Da verfügt das Institut über jahrzehntelange Erfahrung“, sagt Meyer. „Wir arbeiten in der U Bremen Research Alliance seit Langem eng und vertrauensvoll zusammen, was für das Projekt sehr nützlich ist.“

Das Fraunhofer IFAM steuert überdies ein Konzept zur Erfassung der regionalökonomischen Effekte bei. „Wir berechnen mit unserem Modell sowohl die Wertschöpfung, die durch die Investitionen und den Betrieb der Anlagen entstehen, als auch die Beschäftigungseffekte in der Region“, erklärt Anne Nieters vom Fraunhofer IFAM. Die Volkswirtin leitet bei Quarree100 den Arbeitsbereich „Ökonomische und rechtswissenschaftliche Analyse und Entwicklung von Geschäftsmodellen“. Sie rechnet mit einer regional verbleibenden Bruttowertschöpfung in Höhe von rund 20 Millionen Euro.

Keine Frage also: Der Rüsdorfer Kamp und die Stadt Heide profitieren ökonomisch und ökologisch von dem Projekt – wie die gesamte Region inzwischen von dem Windstrom profitiert. Eine ganze Reihe von Forschungs- und Förderprojekten hat sich mittlerweile an der Westküste Schleswig-Holsteins angesiedelt, etwa zur Gewinnung von Wasserstoff und zur Herstellung von synthetischen Kraftstoffen für Flugzeuge. Jüngster Erfolg ist der Bau einer Batteriefabrik mit mehreren Tausend Arbeitsplätzen.

Voraussetzung für diesen Wandel ist Energiesicherheit. Die Transformation kann nur gelingen, wenn das Energiesystem nicht nur bei steifer Brise, sondern auch bei Dunkelflaute funktioniert, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Um die Resilienz des Systems zu prüfen, bauen die Forschenden deshalb einen digitalen Zwilling auf und konfrontieren ihn mit verschiedensten Störereignissen. „Niemand muss morgens also eine kalte Dusche fürchten“, beruhigt Stührmann. „All unsere Ergebnisse zeigen: Eine CO₂-freie Energieversorgung ist möglich.“