Multiresistente Keime nehmen zu – und unser Gesundheitssystem ist darauf schlecht vorbereitet. Ein Blick in die Labore von Bochum und auf eine stille Bedrohung, die längst in unseren Kliniken angekommen ist.
In einem unscheinbaren Labor auf dem Campus der Ruhr-Universität Bochum liegt der vielleicht schärfste Blick auf eine Gefahr, die für Patientinnen und Patienten längst real ist. Hier, im Nationalen Referenzzentrum für gramnegative Krankenhauserreger (NRZ), zählt man nicht nur Bakterien – man zählt Rückzüge. Jedes neue Bakterienisolat, das resistent gegen Reserveantibiotika ist, markiert den Verlust einer weiteren therapeutischen Option. Und 2024 waren es mehr als je zuvor.
Über 10.000 Proben wurden im vergangenen Jahr analysiert. Der Anteil jener, die sogenannte Carbapenemasen produzieren – Enzyme, die selbst unsere letzten Antibiotika-Reserven knacken – ist dramatisch gestiegen: von 43,9 Prozent im Jahr 2021 auf 61,1 Prozent bei Enterobacterales. Das ist kein Ausreißer. Es ist der neue Normalzustand.
Der unsichtbare Feind
Multiresistente Erreger gelten längst als eine der größten Herausforderungen für moderne Gesundheitssysteme. Doch während die Bevölkerung sich an Begriffe wie „Corona-Inzidenz“ oder „Viruslast“ gewöhnt hat, bleibt das Wissen um bakterielle Resistenzen meist abstrakt. Dabei sind sie konkreter – und tödlicher – als so mancher Virus: Laut Studien des ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control) sterben in der EU jährlich rund 35.000 Menschen an Infektionen mit antibiotikaresistenten Keimen. In Deutschland gehen Expertenschätzungen von mehreren Tausend vermeidbaren Todesfällen pro Jahr aus – Tendenz steigend.
Besonders dramatisch wird es in Kliniken. Dort, wo immungeschwächte Menschen behandelt, operiert, beatmet werden. Wo offene Wunden, invasive Eingriffe und Antibiotikagaben Alltag sind – und Keime leichtes Spiel haben. Wo Hygiene, und das muss man heute schmerzhaft feststellen, oft nicht mit derselben Priorität behandelt wird wie Technik oder Personalbemessung.
Sauberkeit als Systemfrage
Denn ja, das Problem ist nicht nur mikrobiologisch. Es ist strukturell. Vielerorts fehlt es an professionellen Hygienekonzepten, ausreichend geschultem Personal, systematischer Überwachung. Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene warnt seit Jahren: Viele Infektionen ließen sich durch konsequente Hygienemaßnahmen verhindern – doch diese geraten oft zwischen Sparzwänge und Personalmangel.
So entsteht eine paradoxe Situation: Während medizinischer Fortschritt Leben verlängert, sterben Menschen an Infektionen, die mit Seife, Handschuhen und Zeit vermeidbar gewesen wären. Der Ökonom spricht von „low-hanging fruit“ – einfacher zu ernten als jeder Hightech-Scanner. Doch es fehlt an politischem Willen und finanzieller Priorisierung.
Forschung am Limit
Das NRZ in Bochum ist eines von mehreren Referenzzentren in Deutschland – wissenschaftlich exzellent, aber finanziell am Limit. Dr. Niels Pfennigwerth warnt, dass die Fördermittel des Bundes nicht mehr ausreichen, um die dringend nötige molekulare Feintypisierung und Überwachung weiterzuführen. Und ohne diese Daten fliegt die Republik im Blindflug.
Dabei ist die Lage hochkomplex. Längst geht es nicht nur um bekannte „Krankenhauskeime“ wie MRSA, sondern um vielfältige Enzymvarianten wie OXA-48, KPC-2, NDM-5 oder VIM-1 – mit unterschiedlichsten Resistenzprofilen und Übertragungswegen. Manche gelangen über Reiserückkehrer, andere über Klinikgeräte oder gar Abwässer in die Gesellschaft. Einmal etabliert, lassen sie sich kaum noch ausrotten.
Die große Frage: Wer schützt uns?
Was also tun? Die Wissenschaft kennt die Antworten: Surveillance ausbauen. Hygiene priorisieren. Antibiotikagaben kontrollieren. Forschung fördern. Und vor allem: das Thema endlich als das behandeln, was es ist – eine gesundheitspolitische Zeitbombe.
Multiresistenz ist kein Randphänomen. Sie ist das Echo jahrzehntelanger Übernutzung von Antibiotika, mangelnder Hygiene und globaler Vernetzung. Und sie trifft nicht nur Menschen mit „Risiko“. Sie trifft uns alle: bei einer Blinddarm-OP, einer Routine-Intubation, einer Geburt.
Krankenhaushygiene, das klingt so altmodisch, beinahe hausmütterlich. In Wahrheit ist sie Hightech-Prävention. Eine der wirksamsten und zugleich unterfinanziertesten Maßnahmen im System.
Wenn wir nicht endlich umdenken, werden wir bald erleben, was es heißt, in einem Gesundheitswesen zu leben, in dem Infektionen wieder töten – nicht wegen fehlender Medikamente, sondern weil die letzten nicht mehr wirken.
Literaturhinweise:
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Bericht des NRZ für gramnegative Krankenhauserreger 2024: Robert Koch-Institut
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ECDC Report on antimicrobial resistance, 2023
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WHO: Global Action Plan on Antimicrobial Resistance
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