Von Tom Cassauwers 

Im spanischen Vorort Las Rozas, nördlich von Madrid, wirkt der Alltag auf den ersten Blick ganz gewöhnlich. Auf dem Kreisverkehr vor dem Bahnhof Las Matas verkauft ein Straßenhändler Churros, während Passanten durch die belebte Kreuzung eilen. Im Hintergrund rauscht der Verkehr einer Schnellstraße. Was niemand sieht: Smarte Kameras beobachten und analysieren das Geschehen – und liefern damit die Daten für ein Stadtbild der Zukunft.

Hier, auf diesem ganz normalen Kreisverkehr, skizzieren europäische Wissenschaftler:innen eine neue Form urbaner Planung – digital, bürgernah und ökologisch.

Stadtplanung mit KI: Das Projekt AMIGOS

Las Rozas ist eine der Pilotstädte des EU-geförderten Projekts AMIGOS, das künstliche Intelligenz (KI) und Datenanalytik einsetzt, um Städte sicherer, grüner und lebenswerter zu gestalten. Entwickelt wurde die Kameratechnologie vom Austrian Institute of Technology. Sie verarbeitet mithilfe von KI innerhalb kürzester Zeit monatelange Videoaufnahmen und erstellt präzise Modelle der Raum- und Verkehrsflüsse.

Ziel ist es, Planerinnen und Planern eine realitätsnahe Entscheidungsgrundlage zu bieten – nicht aus dem Elfenbeinturm heraus, sondern auf Basis echter menschlicher Bewegungsmuster. „Dieses Projekt dreht sich um die ganz grundlegenden Fragen, die sich jeder Bürgerin stellt: Kann ich mein Kind alleine zur Schule gehen lassen?“, sagt Martin Krekeler von der Senatskanzlei der Stadt Hamburg, der das AMIGOS-Team koordiniert.

Testfeld Las Rozas: Zwischen Hightech und Schulweg

Das erste Einsatzgebiet der Technologie ist das Umfeld des Bahnhofs Las Matas – ein Verkehrsknotenpunkt, an dem Schnellstraße, Zugverbindungen, Parkplätze und Nebenstraßen aufeinandertreffen. „Unsere Stadt ist weitläufig, drei Autobahnen durchqueren sie, der Pendlerverkehr nach Madrid ist enorm“, erklärt Nuria Blanco Caballero von Las Rozas Innova, der Innovationsagentur der Stadt.

Die Interaktion von Autos und Fußgänger:innen ist riskant. Die gesammelten Daten und parallel durchgeführte Bürgerbefragungen zeigten schnell Schwachstellen: etwa, dass viele Passanten und Passantinnendie offiziellen Zebrastreifen meiden – mit gefährlichen Folgen.

Inzwischen wird das Viertel grundlegend umgestaltet: neue Bürgersteige, Fahrrad- und E-Scooter-Parkzonen, Ladestationen, Carsharing-Flächen und Sicherheitsbarrieren. Technik und Bürgerbeteiligung greifen ineinander. „Technologie hilft uns, bessere Entscheidungen zu treffen – und näher an den Bedürfnissen der Menschen zu planen“, sagt Blanco Caballero.

KI trifft Verkehrsfluss – das Projekt ELABORATOR

Auch andere europäische Städte setzen auf künstliche Intelligenz im öffentlichen Raum. Im EU-Projekt ELABORATOR, koordiniert vom griechischen Forschungsteam um Dr. Angelos Amditis, werden ähnliche KI-Kameras eingesetzt – beispielsweise in Kopenhagen, wo sie Verkehrsunfälle und gefährliche Situationen analysieren. In Issy-les-Moulineaux bei Paris wurde ein System dynamischer Verkehrszeichen installiert: Es erkennt, ob mehr Radfahrer:innen oder Autos unterwegs sind, und passt die Verkehrsführung in Echtzeit an.

„KI ist notwendig“, so Amditis. „Nur so lassen sich riesige Datenmengen in Echtzeit auswerten – das ist essenziell für die Komplexität städtischer Räume.“

Voneinander lernen: Ein europäisches Netzwerk

Beide Projekte verstehen sich als Blaupausen für andere Städte. AMIGOS arbeitet mit zehn Pilotstädten – darunter Hamburg, Reykjavik, Bologna, Istanbul und Nazareth. Fünf sogenannte „Zwillingsstädte“, darunter Frankfurt, Wiesbaden und Laval, sollen die Ansätze übernehmen. Auch ELABORATOR testet seine Methoden in sechs Städten wie Mailand, Helsinki oder Zaragoza, weitere sechs – etwa Split oder Lund – beobachten und übernehmen Erkenntnisse.

Zentral ist dabei nicht nur die Technik, sondern ein neues Verständnis von Stadtpolitik: bürgerzentriert, transparent, ökologisch und datensouverän. Denn heute sind viele urbane Daten im Besitz großer Techkonzerne – eine Abhängigkeit, die beide Projekte durch lokale Datenkompetenz verringern wollen. „Städte brauchen Daten“, so Krekeler, „aber heute müssen sie sie oft kaufen – das ist ein Problem.“

Politik mit den Menschen, nicht über sie

Die europäische Kommission unterstützt diese Vorhaben im Rahmen ihrer „Cities Mission“, die bis 2030 mindestens 112 europäische Städte klimaneutral und digital transformieren will. Der Green Deal ist Leitlinie – aber es geht nicht nur um Technik, sondern auch um Vertrauen. „Die Menschen sind frustriert“, sagt Krekeler. „Deshalb müssen wir sie fragen, wie sie ihre Stadt erleben – und wie wir sie gemeinsam besser machen.“

In Las Rozas ist der Umbau des Viertels Las Matas fast abgeschlossen. Der nächste Schritt: die gesamte Stadt in das Projekt einzubeziehen. Besonders im Fokus: sichere Schulwege.

„Ko-Kreation ist der Schlüssel“, so Blanco Caballero. „Wir müssen unsere Projekte an den Alltag echter Menschen anpassen – und genau dabei hilft uns Technologie.“

Mehr Informationen:

Dieser Artikel erschien ursprünglich in horizon, dem Innovationsmagazin der EU.