Die deutsche Industrie steht unter Hochspannung: Die geopolitische Sicherheitslage verschärft sich, die internationale Wettbewerbsdynamik verschiebt sich nach Asien und Nordamerika, und zugleich nimmt der Handlungsdruck beim Klimaschutz weiter zu. In diesem Spannungsfeld will die Bundesregierung industriepolitisch liefern – doch wie kann das gelingen, ohne in ideologische Grabenkämpfe oder ineffiziente Subventionsspiralen zu geraten?

Eine aktuelle Studie des Wuppertal Instituts und der Bertelsmann Stiftung versucht, genau diese Frage wissenschaftlich zu durchdringen – und liefert mit dem Papier „Zukunftsfähige Industriepolitik: Wohlstand, Sicherheit und Klimaschutz vereinen“ ein methodisches Fundament, um industriepolitische Maßnahmen künftig strategischer zu bewerten. Auf Basis von zehn Kriterien soll Industriepolitik zielgenauer, transparenter und wirksamer werden – für die Bundesregierung, aber auch für Landesregierungen, Industrieakteure und die EU-Kommission.

Industriepolitik zwischen Ambition und Ambivalenz

Industriepolitik ist zurück – spätestens seit dem amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) und dem europäischen Clean Industrial Deal ist klar: Markt und Staat verhandeln das industrielle Gefüge neu. Doch während Brüssel Subventionsrahmen neu steckt und Paris strategische Souveränität ausruft, ringt Berlin oft noch um Begrifflichkeiten: Was darf der Staat? Wen soll er fördern? Und wie lässt sich Klimapolitik mit Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Ausgleich verbinden?

Die Studie beantwortet diese Fragen nicht normativ, sondern strukturell. Sie liefert einen Bewertungsrahmen, der industriepolitische Maßnahmen anhand von zehn Zukunftskriterien analysiert – etwa in Bezug auf Innovationskraft, Emissionsminderung, Resilienz, regionale Ausgleichseffekte oder europäische Anschlussfähigkeit.

„Unsere Kriterien helfen, die politischen Zielkonflikte offenzulegen – und ermöglichen eine fundierte Abwägung, statt reflexartiger Förderpolitik“, erklärt Dr. Anna Leipprand, Co-Leiterin des Forschungsbereichs „Transformative Industriepolitik“ am Wuppertal Institut.

Drei Fallstudien als Realitätstest

Um den Kriterienkatalog auf seine Praxistauglichkeit zu prüfen, haben die Autor:innen drei industriepolitische Interventionen analysiert:

  • BASF-Kathodenfabrik in Schwarzheide (Lausitz): Ein Schlüsselprojekt im Aufbau einer europäischen Batteriewertschöpfungskette – gefördert mit IPCEI-Mitteln und regionalpolitisch sensibel. Die Studie zeigt: Innovationshöhe, regionale Strukturwirkung und EU-Kompatibilität sind hoch, doch soziale Wirkung und Umweltkriterien könnten stärker integriert werden.

  • GET H2-Projekt (Niedersachsen/NRW): Beim Markthochlauf von Wasserstoff wird Infrastrukturpolitik zur industriepolitischen Frage. Die Analyse belegt: Die Initiative überzeugt durch sektorale Breitenwirkung und Systemrelevanz, offenbart aber Herausforderungen bei regulatorischer Planungssicherheit und Flächenverfügbarkeit.

  • SALCOS von Salzgitter AG (Niedersachsen): Die Transformation der Stahlindustrie ist ein Lackmustest für klimaneutrale Grundstoffproduktion in Deutschland. Das Projekt punktet in fast allen Kriterien – insbesondere bei Klimawirkung, Beschäftigungssicherung und sektoraler Hebelwirkung.

Zehn Kriterien, ein Ziel: Kohärenz

Die zehn Bewertungsdimensionen umfassen unter anderem:

  1. Klimawirkung und Emissionsreduktion

  2. Wertschöpfung und Beschäftigung

  3. Innovationsförderung

  4. Versorgungssicherheit und Resilienz

  5. Regionale Ausgleichseffekte

  6. Soziale Verträglichkeit

  7. Förderfähigkeit innerhalb der EU

  8. Langfristige wirtschaftliche Tragfähigkeit

  9. Governance-Kompatibilität

  10. Zielkonflikttransparenz

Dabei betonen die Autor:innen: Industriepolitik ist immer ein politischer Kompromiss. Doch mit den Kriterien wird der Aushandlungsprozess strukturierbar – und nachprüfbar.

Ein Werkzeug für die Bundesregierung – und darüber hinaus

Die Studie ist kein Plädoyer für pauschalen Dirigismus, sondern für zielgerichtete Politikgestaltung. Sie spricht sich nicht per se für mehr, sondern für bessere Eingriffe aus. Die Autoren schlagen vor, die Kriterien in strategische Prüfverfahren auf Bundesebene zu integrieren – etwa bei der BAFA, im BMWK oder auch im Rahmen von EU-Förderentscheidungen.

„Industriepolitik ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, gesellschaftliche Zukunftsziele zu erreichen“, sagt Daniel Posch, Mitautor und Wirtschaftsexperte der Bertelsmann Stiftung. „Unser Ziel ist es, diesen Anspruch mit überprüfbaren Standards zu unterfüttern.“

Von der Reaktion zur Strategie

Ob grüne Leitmärkte, resiliente Lieferketten oder die neue Dualität von Sicherheit und Innovation – Industriepolitik ist heute zu wichtig, um sie dem Zufall oder Einzelinteressen zu überlassen. Die Studie liefert einen Beitrag dazu, Industriepolitik als gestaltbares, überprüfbares und lernfähiges Instrument zu verstehen.

Für eine Bundesregierung, die unter hohem Erwartungsdruck steht, könnte dieser Bewertungsrahmen ein pragmatisches Werkzeug sein – vorausgesetzt, man traut sich, Zielkonflikte nicht nur zu benennen, sondern auch offen auszuhandeln.