Es gibt Momente in der Klimapolitik, da wirken große Zahlen eher lähmend als mobilisierend. 90 Prozent weniger Emissionen bis 2040, Netto-Null bis 2050. Wer soll das noch greifen, geschweige denn glauben? Die europäische Klimapolitik steht an einem Wendepunkt. Die einfachen Einsparungen sind gemacht. Was bleibt, sind Zielkonflikte, unbequeme Wahrheiten und eine zentrale Frage: Wie viel Realitätssinn verträgt die große Vision?

Ein alter Bekannter kehrt zurück: das internationale Klimazertifikat. Einst umstritten, nun wieder auf der Agenda. Staaten könnten sich – so die Idee – einen Teil ihrer Emissionsminderungen im Ausland „einkaufen“. Klingt nach Ablasshandel? Vielleicht. Aber es gibt Argumente, die für einen pragmatischen Umgang sprechen.

Von Kyoto nach Kattowitz – und zurück

Das Prinzip ist nicht neu. Schon im Kyoto-Protokoll konnten Industrieländer Emissionsrechte durch Investitionen in Entwicklungs- und Schwellenländer erwerben. Doch was gut klang, geriet schnell in Verruf: Billige Projekte, zweifelhafte Standards, Betrugsfälle. Der Markt wurde von Vertrauen entkoppelt – und verlor an Wirkung.

Heute, fast zwanzig Jahre später, kommt die Idee in anderem Gewand zurück. Artikel 6 des Pariser Abkommens liefert die völkerrechtliche Grundlage. Und in Berlin wird heftig darüber diskutiert, ob drei Prozent des neuen EU-Klimaziels durch internationale Zertifikate gedeckt werden dürfen. Unterstützt wird die Idee nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von Paris und Warschau. Widerstand kommt vor allem aus Brüssel – und aus den eigenen Reihen der Klimabewegung.

Zwei Realitäten, ein Dilemma

Die Hoffnung: Mit Hilfe hochwertiger Zertifikate genau dort Emissionen binden, wo es besonders effizient geht – etwa durch CO2-Entnahme-Technologien wie DACCS (Direct Air Carbon Capture and Storage) in Partnerländern mit reichlich erneuerbarer Energie. Die Realität: Die Frage der „Zusätzlichkeit“, also ob Projekte ohne diese Gelder überhaupt stattgefunden hätten, ist kaum zu beantworten. Und der Vorwurf bleibt: Wer Klimaschutz outsourct, verliert an Glaubwürdigkeit.

Was also tun? Die EU könnte, statt auf Masse, auf Qualität setzen. Ein Beispiel: In Namibia läuft derzeit ein Pilotprojekt, bei dem mit Solarstrom CO2 direkt aus der Luft gefiltert wird. Die Technologie ist teuer, der Impact groß.

Ein anderes Beispiel: In Kolumbien wird daran gearbeitet, CO2 in ehemaligen Öllagerstätten dauerhaft zu speichern – unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung. Beide Projekte könnten durch gezielte Nachfrage aus der EU zu Blaupausen einer neuen Klimaaußenpolitik werden. Vorausgesetzt, es gibt politische Rückendeckung – und klare Spielregeln.

Die Angst vor der letzten Meile

Viele Debatten rund um Artikel sechs kranken an einer Sache: Sie werden geführt, als gäbe es noch Alternativen. Doch der politische Spielraum schrumpft. Während sich die CO2-Kurve in vielen Sektoren abflacht, steigen die Kosten und Zielkonflikte: zwischen Wohlstand und Nachhaltigkeit, Industriepolitik und Regulierung. Der Emissionshandel wird komplexer, die Gesetzgebungsprozesse langsamer. Eine Vision allein reicht nicht mehr – es braucht Instrumente, die robust sind, selbst dann, wenn der Wind der Politik sich dreht.

Deshalb plädieren Fachleute wie Felix Schenuit von der Stiftung Wissenschaft und Politik für eine strategische Öffnung – nicht als Freifahrtschein, sondern als Korrektiv: „Artikel-6-Zertifikate können helfen, jene Technologien zu fördern, die wir in Europa nicht skalieren können, die aber global unverzichtbar sind.“

Vertrauen, das man kaufen kann?

So entsteht eine paradoxe Allianz: Der Markt, einst Klimasünder, soll zum Klimahelfer werden. Doch damit das gelingt, braucht es einen bewussten Umgang mit den eigenen Fehlern – und eine neue Ehrlichkeit in der Kommunikation. Weniger Schlagzeilen, mehr Substanz.

Denn eines ist klar: Der CO2-Ausstoß kennt keine Landesgrenzen. Und wer glaubt, Europa könne den Planeten allein retten, verkennt die Realität. Aber wer daraus folgert, sich aus der Verantwortung zu kaufen, verspielt Vertrauen – das wertvollste Gut in der Klimapolitik.