70 Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben einen Aufruf veröffentlicht, und sprechen sich für die Einführung eines Lieferkettengesetzes in Deutschland aus.
Das Vorhaben ist zwischen den Koalitionsparteien seit Monaten umstritten. Nach Angaben aus Regierungskreisen sollen die Streitpunkte heute in einem Spitzengespräch zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) ausgeräumt werden.
In dem Aufruf setzen sich die unterzeichnenden Ökonominnen und Ökonomen, darunter auch die Wirtschaftsethiker Prof. Dr. Peter Ulrich und Prof. Dr. Bernhard Emunds, dafür ein, dass Deutschland die menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten von Unternehmen gesetzlich regelt. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive sei ein Lieferkettengesetz notwendig und machbar.
Prof. Dr. Hansjörg Herr hat den Aufruf mitinitiiert und erläutert: „Am Weltmarkt haben sich Lieferketten durchgesetzt, die zu erheblichen sozialen und ökologischen Kosten führen – das ist ein Markt- und Politikversagen. Ein umfassendes Sorgfaltspflichtengesetz kann dem entgegenwirken.“ Prof. Dr. Elisabeth Fröhlich, Präsidentin der CBS International Business School, ergänzt: „Gerade Deutschland mit seinen hohen Leistungsbilanzüberschüssen und der ökonomischen Abhängigkeit vom Welthandel muss eine regulierte nachhaltige Globalisierung fördern, damit die hiesige Wirtschaft zukunftsfähig bleibt.“
Der Mitunterzeichner Dr. Frank Hoffer, langjähriger Mitarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und ehemaliger Geschäftsführer von ACT, der Initiative von Textilunternehmen und Gewerkschaften für existenzsichernde Löhne in der Textilindustrie, macht deutlich: „Ein Lieferkettengesetz verhindert unerwünschte Wettbewerbsvorteile durch schlechtere Arbeitsbedingungen, Armutslöhne oder unterlassene Investitionen in Arbeits- und Umweltschutz. Die Leistungen von Unternehmen, die sich schon jetzt für nachhaltige Lieferketten engagieren, werden durch ein solches Gesetz anerkannt und andere Unternehmen werden motiviert es ihnen gleich zu tun.“
Menschenrechts-, Entwicklungs- und Umweltorganisationen sowie Gewerkschaften und kirchliche Akteure fordern schon lange die Einführung eines wirksamen Lieferkettengesetzes. Dazu haben sie sich zur „Initiative Lieferkettengesetz“ zusammengeschlossen. „Wir begrüßen den Aufruf, denn er zeigt, wie wichtig ein Lieferkettengesetz auch aus ökonomischer Perspektive ist. Die Bundesregierung hat ein Lieferkettengesetz im Koalitionsvertrag zugesagt. Doch die Legislaturperiode endet bald – die Zeit zu handeln ist also jetzt“, betont Johanna Kusch, Sprecherin der Initiative Lieferkettengesetz.
Das Bündnis umfasst mittlerweile 123 Organisationen, darunter auch das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt. Dr. Klaus Seitz, Leiter der Politikabteilung von Brot für die Welt, unterstreicht: „Unternehmen, die für Schäden an Mensch und Umwelt in ihrer Lieferkette verantwortlich sind, müssen auch dafür haften. Es ist höchste Zeit, dass Sorgfaltspflichten zum Schutz von Menschenrechten und Natur in einem Lieferkettengesetz festgeschrieben werden. Ein solches Gesetz stärkt die schwächsten Glieder der globalen Lieferketten und bahnt den Weg zu einer fairen und nachhaltigen Wirtschaftsweise.“
Weiterführende Informationen:
Aufruf von Ökonom*innen zur Einführung eines Lieferkettengesetzes in Deutschland
Gemäß den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte tragen Unternehmen Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards entlang ihrer Wertschöpfungsketten. In Deutschland geht die Debatte um ein Lieferkettengesetz aktuell in die entscheidende Phase und die Bundesregierung sollte gerade jetzt ihre Zusagen aus dem Koalitionsvertrag zügig umsetzen und noch in dieser Legislaturperiode ein Lieferkettengesetz in Deutschland verabschieden und zugleich für eine starke EU-weite Regelung eintreten.
Aus volkswirtschaftlicher Sicht gibt es eine Reihe von Argumenten, die für eine gesetzliche Regelung menschenrechtlicher und ökologischer Sorgfaltspflichten in der Lieferkette sprechen.
Am Weltmarkt haben sich Lieferketten durchgesetzt, die zu einer Güterproduktion mit erheblichen sozialen und ökologischen Kosten führen. Ein viel zu geringer Anteil der Wertschöpfung verbleibt in den produzierenden Ländern des globalen Südens, was ihre Entwicklungschancen einschränkt. Verantwortungsbewusste Konsumentscheidungen werden durch fehlende Transparenz und Preise erschwert, die nicht die tatsächlichen Kosten widerspiegeln. Langfristig drohen globale Krisen aufgrund ungenügender Entwicklungschancen vieler Gesellschaften und der Übernutzung natürlicher Ressourcen.
Ein Lieferkettengesetz schafft die gesetzliche Grundlage für eine systematische Risikoanalyse entlang der Wertschöpfungskette, für präventive Maßnahmen zur Verringerung dieser Risiken, zur periodischen Berichterstattung bezüglich der Wirkung der getroffenen Maßnahmen sowie zur Wiedergutmachung im Schadensfall. Dies verbessert die Voraussetzungen für zielführendes wirtschaftliches und politisches Handeln. Ein wirkungsvolles Lieferkettengesetz muss zu Verhaltensänderungen in den Unternehmen führen und bei Verletzung der Sorgfaltspflichten ordnungs- und haftungsrechtliche Konsequenzen einschließen.
Aus Sicht der unterzeichnenden Ökonom*innen liegt ein vielfaches Markt – und Politikversagen vor, dem durch ein umfassendes Sorgfaltspflichtengesetz entgegengewirkt werden kann. Alle Standardmodelle des internationalen Handels besagen, dass positive Wohlfahrtseffekte für alle nur erreicht werden können, wenn verantwortungslose Geschäftspraktiken verhindert und Verlierer der Globalisierung kompensiert werden.
Externe Kosten:
Diese externen Kosten fallen aber als reale und spürbare Kosten für die Gesellschaft an. Davon sind in den Ländern des globalen Südens insbesondere die Menschen betroffen, die häufig nicht die Macht oder die politischen und rechtlichen Möglichkeiten haben, die Vermeidung oder Kompensation dieser Kosten einzufordern. In vielen Ländern des globalen Südens sind die Staaten aus verschiedensten Gründen nicht in der Lage, ausreichende Regulierungen gemäß internationaler Abkommen und Standards einzuführen und durchzusetzen. In vielen Ländern werden zum Beispiel Arbeitnehmer*innen eingeschüchtert, entlassen und verfolgt, wenn sie ihre Lebensverhältnisse durch gewerkschaftliche Interessenvertretung verbessern wollen. Ein Lieferkettengesetz würde alle Unternehmen dazu verpflichten mehr Transparenz bezüglich sozialer und ökologischer Risiken entlang ihrer Lieferketten zu schaffen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen diese präventiv zu vermeiden.
Negative externe Effekte, wie zum Beispiel der Verlust von Biodiversität oder gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen, werden nicht in die Kostenkalkulation der Unternehmen einbezogen. Zur Bestimmung der realen Produktionskosten ist es aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive eine Selbstverständlichkeit, dass negative externe Effekte durch Regulierungen internalisiert werden müssen.
Kollektiv- und Allmendegüter: Der Marktmechanismus erfasst die Natur und ökologische Zerstörungen nicht adäquat. Dies hat zu einer Überbeanspruchung und Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen geführt. Ein Lieferkettengesetz soll Transparenz darüber schaffen, ob private Akteure in Wertschöpfungsketten zur Übernutzung natürlicher Ressourcen beitragen und welche Maßnahmen ergriffen werden, um negative Effekte zu verhindern.
Marktkonzentration und Machtungleichgewicht: Lieferbeziehungen sind in globalen Lieferketten häufig durch Abhängigkeit und ungleiche Verhandlungsmacht gekennzeichnet. Zulieferer im globalen Süden stehen, etwa in der Bekleidungs-, Nahrungsmittel- oder Elektronikbranche, in harter Konkurrenz untereinander und stehen oftmals Nachfragemonopolen oder -oligopolen gegenüber. Ein Lieferkettengesetz kann den negativen volkswirtschaftlichen Effekten der oligopolistischen oder monopolistischen Marktstrukturen entgegenwirken. Es stärkt die schwächsten Glieder in Lieferketten und verhindert unerwünschte Wettbewerbsvorteile aufgrund von Sozial- und Ökodumping.
Kosten der Umsetzung und Verhältnismäßigkeit: Ein deutsches Lieferkettengesetz führt vorerst zu zusätzlichen Investitionskosten für die Unternehmen. Diese können jedoch als verhältnismäßig gering eingeschätzt werden. Zudem ist zu erwarten, dass die Kosten teilweise kompensiert werden, denn
- menschenwürdige und ökologische Produktion gilt bei einem Teil der Konsument*innen, Kunden und in der öffentlichen Beschaffung als Kaufargument.
- Transparenz entlang der Lieferkette wird zunehmend von Investor*innen und Kreditgeber*innen verlangt, damit Finanzinstitute ihren eigenen gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen können.
- Nachhaltig geführte und verantwortliche Unternehmen haben weniger Reputationsrisiken, welche sich negativ auf Aktienkurse, aber auch auf den Markt gut ausgebildeter und motivierter Mitarbeiter*innen auswirken können.
- durch eine bessere Reproduktion der Arbeitskraft sind positive Produktivitätseffekte zu erwarten, welche die Kosten senken.
- durch ein Lieferkettengesetz wird die produktive Konkurrenz zwischen Unternehmen angeregt, welche durch Innovationen, qualifizierte Mitarbeiter*innen, effiziente Logistik oder vorausschauendes Management ihre Verkäufe steigern. Der Erzielung von Konkurrenzvorteilen durch schlechtere Arbeitsbedingungen, Niedrigstlöhne oder unterlassene Investitionen in Arbeits- und Umweltschutz wird dagegen entgegengewirkt.Gleichzeitig sollten Handels- und Steuerregelungen genutzt werden, um Unternehmen dabei zu unterstützen gute Umwelt- und Sozialstandards in ihren Lieferketten durchzusetzen. Bei der öffentlichen Beschaffung sollte die Einhaltung der menschenrechtlichen und ökologische Sorgfaltspflich- ten durch die Unternehmen eine Bedingung für die Auftragsvergabe sein.Gerade Deutschland mit seinen hohen Leistungsbilanzüberschüssen und seiner ökonomischen Abhängigkeit vom globalen Handel muss eine regulierte nachhaltige Globalisierung fördern, damit unsere Wirtschaft zukunftsfähig bleibt. Deshalb setzen sich die unterzeichnenden Ökonomen*innen für eine gesetzliche Regelung menschenrechtlicher und ökologischer Sorgfaltspflichten ein.
13. Januar 2021
Erstunterzeichner*innen (alphabetisch):
Dr. Sibyl Anwander; Prof. Dr. Miriam Beblo, Universität Hamburg; Prof. Dr. Thomas Beschorner, Uni- versität St. Gallen; Dr. Reinhard Bispinck, Hans-Böckler-Stiftung; Prof. Dr. Hermann Bömer (em.), Technische Universität Dortmund; Prof. Dr. Heinz-Joseph Bontrup (em.), Westfälische Hochschule; Leonid Borin; Prof. Dr. Gerd Bosbach (em.), Universität Konstanz; Prof. Dr. Silke Bothfeld, Hochschule Bremen; Prof. Dr. Klaus Busch (em.), Universität Osnabrück; Prof. Dr. Astrid Dannenberg, Universität Kassel; Dr. Thomas Dürmeier, Prof. Dr. Frank Ebinger, Nuremberg Campus of Technology, TH Nürn- berg; Prof. Dr. rer. pol. Bernhard Emunds, Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen; Prof. Dr. rer. pol. Wolfram Elsner, Universität Bremen; Prof. Dr. Trevor Evans (em.) Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin; Prof. Dr. René Fahr, Universität Paderborn; Uwe Foullong, ver.di; Prof. Dr. Ulrich Frit- sche, Universität Hamburg; Prof. Dr. habil. Elisabeth Fröhlich, CBS International Business School; Sven Giegold, MdEP; Dr. Jürgen Glaubitz; Dr. Jörg Goldberg; Dr. Wolfgang Haferkamp, MIND GmbH; Prof. Dr. Julia Hartmann, EBS Business School; Prof. Dr. Eckhard Hein, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin; Prof. Dr. Michael Heine (em.), Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin; Dr. Corne- lia Heintze; Prof. Dr. Arne Heise, Universität Hamburg; Prof. Dr. Fritz Helmedag, Technische Universi- tät Chemnitz; Prof. Dr. Peter Hennicke; Prof. Dr. Hansjörg Herr, Hochschule für Wirtschaft und Recht; Prof. Dr. Brigitta Herrmann, CBS International Business School, Prof. Dr. Rudolf Hickel (em.), Univer- sität Bremen; Dr. Dierk Hirschel, ver.di; Dr. Frank Hoffer, Global Labour University; Prof. Dr. Gustav A. Horn (apl.), Universität Duisburg-Essen; Prof. (FH) Mag. Dr. Johannes Jäger, Fachhochschule des BFI Wien; Prof. Dr. Heike Joebges, Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin; Prof. Dr. Jakob Ka- peller, Universität Duisburg-Essen; Prof. Dr. Christian Klein, Universität Kassel; Prof. Dr. Jürgen Krom- phard, Technische Universität Berlin; Prof. Dr. Rudi Kurz, Hochschule Pforzheim; Dr. Steffen Lehn- dorff, Universität Duisburg-Essen; Prof. Dr. Camille Logeay, Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin; Prof. Dr. Martina Metzger, Hochschule für Wirtschaft und Recht; Prof. Dr. Bernhard Nagel (em.) Universität Kassel; Dr. Zeynep Nettekoven, Europäische Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Torsten Niechoj, Hochschule Rhein-Waal; Prof. Dr. Werner Nienhüser, Universität Duisburg-Essen; Prof. Dr. Walter Ötsch, Cusanus Hochschule; Prof. Dr. Jennifer Pédussel Wu, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin; Prof. Dr. Dr. Helge Peukert, Universität Siegen; Prof. Dr. Jan Priewe (em.), Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin; Prof. Dr. Ralf Ptak, Universität Köln; Prof. Dr. Miriam Rehm, Universität Duisburg Essen; Dr. Arif Rüzgar; Prof. Dr. Thomas Sauer, Ernst-Abbe-Hochschule Jena; Prof. Dr. Christoph Scherrer, Universität Kassel; Kai Schlegelmilch, Fo- rum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft e. V.; Prof. Dr. Thorsten Schulten, Hans-Böckler-Stiftung; Prof. Dr. Stefan Seuring, Universität Kassel; Dr. Joachim H. Spangenberg; Sustainable Europe Rese- arch Institute SERI Germany e.V.; PD Dr. Ulrich Thielemann, Me M‘ Denkfabrik für Wirtschaftsethik; Dr. Sebastian Thieme, Me’M Denkfabrik für Wirtschaftsethik; Dr. Axel Troost, Institut Solidarische Moderne; Prof. Dr. Peter Ulrich (em.), Universität St. Gallen; Hannes Vetter; Prof. Dr. Björn Vollan, Philipps-Universität Marburg; Prof. Dr. Brigitte Young (em.), Universität Münster; Prof. Dr. Karl- Georg Zinn (em.), RWTH Aachen
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